Sechs blinde Männer und ein Elefant
Während meiner spirituellen Reise begleitete mich lange die Geschichte von den sechs blinden Männern und dem Elefanten. Das Gleichnis der Blinden und des Elefanten findet sich in alten jainistischen, hinduistischen und buddhistischen Quellen, die bis ins Jahr 500 v. Chr. zurückreichen.
Das Gleichnis erzählt die Geschichte eines weisen Königs, der sich sehr darüber ärgerte, dass die Männer in seinem Umfeld immer wieder darüber streiten, wer wohl Recht hätte. Um diese nutzlosen Auseinandersetzungen ein für alle Mal im Keim zu ersticken, bediente er sich eines Elefanten und sechs blinder Männer.
Vor den Augen seiner verstrittenen Minister, forderte er die blinden Männern auf, sich dem Elefanten zu nähern und durch Ertasten und Erfühlen ihm beschreiben zu können, was denn genau ein Elefant sei.
Der erste Blinde streckte seine Hand aus und berührte die Seite des Elefanten. „Wie glatt! Ein Elefant ist wie eine Mauer.“ Der zweite Blinde streckte seine Hand aus und berührte den Rüssel des Elefanten. „Wie rund! Ein Elefant ist wie eine Schlange.“ Der dritte Blinde streckte seine Hand aus und berührte den Stoßzahn des Elefanten. „Wie scharf! Ein Elefant ist wie ein Speer.“ Der vierte Blinde streckte seine Hand aus und berührte das Bein des Elefanten. „Wie groß! Ein Elefant ist wie ein Baum.“ Der fünfte Blinde streckte seine Hand aus und berührte das Ohr des Elefanten. „Wie breit! Ein Elefant ist wie ein Fächer.“ Der sechste Blinde streckte seine Hand aus und berührte den Schwanz des Elefanten. „Wie dünn! Ein Elefant ist wie ein Seil.“
Als jeder der Blinden den Ausführungen des anderen folgte, kam es zum Streit, denn jeder Blinde glaubte, seine eigene Wahrnehmung des Elefanten sei die einzig richtige.
Die Weisheit des Königs
Der weise König hingegen rief laut aus. „Der Elefant ist ein großes Tier“, sagte er. „Jeder blinde Mann berührte nur einen Teil. Man muss alle Teile zusammenfügen, um herauszufinden, wie ein Elefant ist.“
Durch die Weisheit des Königs erleuchtet, einigten sich die Blinden. „Jeder von uns kennt nur einen Teil. Um die ganze Wahrheit herauszufinden, müssen wir alle Teile zusammenfügen.“
Einer Interpretation zufolge handelt es sich bei den verschiedenen Perspektiven also lediglich um Teilerfahrungen, die nur einen Teil der Realität des göttlichen Mysteriums erfassen. Menschen, die das Unbekannte, das Transzendente verstehen wollen, sind wie Blinde. Niemand hat die volle Wahrheit; Jede Perspektive ist parteiisch. Nur der weise König sieht den ganzen Elefanten und klärt diejenigen auf, die seine Sichtweise akzeptieren.
Was würde Thomas von Aquin wohl zur Geschichte der Blinden und des Elefanten sagen?
Er würde zustimmen, dass niemand außer Gott allein die volle Wahrheit über Gott hat. Nur ein göttlicher Geist kann die göttliche Essenz vollständig begreifen, denn nur ein unendliches göttliches Verständnis kann umfassend mit einer unendlichen göttlichen Realität vereint werden.
Für uns Menschen ist es unmöglich, Gott vollständig zu erfassen – Gott bleibt für uns immer völlig transzendent. Paulus schrieb dazu: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“ (1 Kor 13,12).
Der Mensch kann das Geheimnis Gottes nicht vollständig kennen. „Wenn ich ihn kennen würde, wäre ich er“, heißt es in einem mittelalterlichen hebräischen Sprichwort.
Aber was ist nun mit dem König? Er hat das Sehvermögen, also ist er derjenige, der die Wahrheit über den Elefanten kennt. Seine Vision des Elefanten geht über das teilweise Verständnis der Blinden hinaus, die nur einen Teil des Elefanten berühren können. Zumindest kennt der König also die Wahrheit über das göttliche Mysterium.
Und genau das ist ein Problem für das Gleichnis vom Blinden und dem Elefanten.
In seinem Buch „Warum Gott? Vernünftiger Glaube oder Irrlicht der Menschheit?“ fasst der amerikanische Theologe Timothy Keller den Widerspruch in dieser alten Geschichte wie folgt zusammen: „Wie kann man wissen, dass jeder Blinde nur einen Teil des Elefanten sieht, wenn man nicht gleichzeitig behauptet, den ganzen Elefanten sehen zu können?“
Wenn der König tatsächlich nur ein Mensch ist, wie kann er dann die Grenzen menschlicher Erfahrung überwinden? Er kann es nicht. Niemand, der nur ein Mensch ist, kann über die Grenzen des Menschseins hinausgehen. Wenn der König lediglich ein Mensch ist, muss er ebenfalls an die begrenzte menschliche Perspektive gebunden sein und wäre somit nur ein weiterer blinder Mann.
Und diese Erkenntnis scheint mir grundlegend für unser menschliches Leben und gesellschaftliches Miteinander. Kein Mensch kann für sich den Anspruch erheben, seine Perspektive ist allumfassend und davon eine für alle gültige Realität ableiten.
Aber was wäre, wenn die göttliche Realität eine menschliche Realität würde? Was wäre, wenn Gott einer von uns wäre? Nun, wenn dies geschehen würde, könnte dieser Mensch mehr über Gott wissen, als es einem einfachen Menschen jemals möglich wäre. Dieser Mensch könnte die Grenzen des menschlichen Denkens und der begrenzten Erfahrung überwinden, da dieser Mensch nicht nur menschlich, sondern auch göttlich wäre.
Und das ist natürlich genau das, was Jesus von Nazareth behauptet hat als er sagte: „[Gott] der Vater und ich sind eins. (..) wer mich sieht, sieht den Vater.“
Wenn Jesus Gott von Gott ist, dann kann Jesus uns über das göttliche Geheimnis informieren, dann kann Jesus für uns alle Teile zusammenfügen. So führt das Gleichnis vom Blinden und dem Elefanten meiner Auffassung nach entweder zum Widerspruch oder zu Jesus Christus.