Han Kang

Kirsten Mulach

Menschenwerk

„Die Vegetarierin“ war das erste Werk, das ich von der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang gelesen habe und war fasziniert davon, wie ihre klinisch, distanzierten Sprache zutiefst aufwühlend sein kann. In „Menschenwerk“ ist diese karge und präzise Prosa sogar noch überzeugender, weil es ihr m.E. nicht nur in sprachlicher Hinsicht gelingt, durch ihren kafkaesken Schreibstil das Ausmaß des brutalen Massaker in Gwangju 1980, einer Stadt in Südkorea, zum Ausdruck zu bringen.

„Menschenwerk“ dreht sich um einen Jungen namens Dong-ho. Dong-ho basiert offenbar auf einem realen Kind, mit dem Han Kang eine entfernte Verbindung hatte und das eines von vielen war, die 1980 in Gwangju massakriert wurden.

Quelle:IMAGO/TT

Doris Dörrie

Han Kang zu lesen ist wie in einen Strudel aus Brutalität und Zärtlichkeit geworfen zu werden, aus dem man durchgeschüttelt, perplex und tief bewegt wieder auftaucht. (Aufbau-Verlag)

Ende 1979 wurde Südkoreas Militärmachthaber Park Chung-hee ermordet. Er war seit seinem Putsch im Jahr 1961 an der Macht und hatte seine repressiven Maßnahmen verschärft, um eine De-facto-Diktatur zu errichten. Als Reaktion auf Demonstrationen im gesamten Süden des Landes verhängte er das Kriegsrecht.

Durch seine Ermordung erlangte Parks Protegé Chun Doo-hwan die Macht. Im Mai weitete Chun das Kriegsrecht auf das ganze Land aus und führte eine Reihe weiterer restriktiver Maßnahmen ein, darunter das Verbot politischer Aktivitäten, die Einschränkung der Pressefreiheit und die Schließung von Universitäten.

Als Reaktion darauf kam es am 18. Mai in Gwangju zu Studentendemonstrationen. Die Regierung antwortete den demonstrierenden Studenten der Jeonnam-Universität, indem sie auf sie schoss und sie massiver Gewalt aussetzte. Die Empörung darüber führte dazu, dass sich die Proteste ausweiteten und die Bürger aus Solidarität auf die Straße gingen, um gegen den Mangel an Demokratie und die harten Bedingungen zu protestieren, die die Arbeiter während der raschen Industrialisierung Südkoreas erdulden mussten.

Daraufhin eskalierte die Gewalt. Fallschirmjäger wurden gegen Zivilisten eingesetzt, Schulkinder wurden erschossen, als sie versuchten, sich zu ergeben, Menschen wurden von Regierungstruppen geschlagen, vergewaltigt und gefoltert. Die Kämpfe in der Stadt endeten am 27. Mai.

Offizielle Zahlen gehen von etwa 200 Toten aus, während einige ausländische Presseberichte von 2.000 sprechen. Die genaue Zahl der Todesopfer lässt sich nur schwer ermitteln – viele Leichen wurden in anonyme Gräber geworfen. Chun Doo-hwan machte aus Nordkorea entsandte Kommunisten für die Rebellion verantwortlich. Erst 1997 wurde ein Gedenktag ins Leben gerufen.

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Menschenwerk

Bild: Francois Lochon/Gamma-Rapho/Getty Images

Han Kangs Buch ist ein Versuch, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen und mit der Grausamkeit zu versöhnen, die den Menschen von ihren eigenen Landsleuten entgegengebracht wurde. Kang wurde in Gwangju geboren und zog im Alter von 10 Jahren nach Seoul. Das letzte Kapitel des Buches beschreibt ihre eigenen Erfahrungen mit dem Aufstand – sie bemerkt, wie ihre Eltern versuchen, ihn vor den Kindern zu verbergen, doch  sie öffnet ein Buch mit Fotos, auf denen eine Frau zu sehen ist, der man ins Gesicht geschossen hat – und hat das Bedürfnis, die Geschichte der verbliebenen Stimmen zu erzählen. Es sind gerade diese Stimmen, denen Han Kang einen eindringlichen Ausdruck verleiht.

Der Roman wurde 2014 in Südkorea veröffentlicht, ein Jahr nach der Amtseinführung von Park Chung-hees Tochter als Präsidentin. Park Geun-hyes Aufstieg ins höchste Amt Koreas motivierte Kang, ein Buch zu schreiben, in dem ein Teil von Koreas traumatischer Vergangenheit behandelt wird, der selten ins Rampenlicht rückt. Kangs Frage, warum die Bewohner von Gwangju die Nationalhymne sangen, während Leichen in Taegukgi (die Nationalflagge) gehüllt wurden, zeigt, wie tief solche Wunden die Identität einer Person eindringen können.

Die Stärke von „Menschenwerk“ liegt in seiner Fähigkeit, eine Reihe von Perspektiven auf das Ereignis zu bieten. Durch Kangs Verwendung der koreanischen literarischen Tradition einer verknüpften Erzählung, ist man als Leser im gesamten Roman mit Dong-ho verbunden, kann aber die Auswirkungen des Aufstands aus einer Vielzahl verschiedener Perspektiven sehen. Z.B. durch die Augen der gewerkschaftlich organisierten Frauen, die die junge Demokratiebewegung anführten, der Überlebenden und sogar durch eine Leiche  lässt Kang die Geschichte erzählen. Dadurch entsteht ein Roman, der tatsächlich vielschichtig über das Ereignis und die Erfahrungen der Menschen aufklären kann. Der distanzierte Ton, der in allen Werken von Kang verwendet wird, lässt jegliche Sensationsmache vermissen, da dem Leser buchstäblich die Folter vor Augen geführt wird.

Der Roman verdeutlicht, dass jede Form von Geschichte in unserer gegenwärtigen Politik und allen Lebensbereichen fortbesteht. Romane und andere literarische Werke bieten m.E. die Möglichkeit, zum einen als historische Quelle zu fungieren, andererseits die Reaktionen der Menschen auf Ereignisse darzustellen und uns unbekannte Bereiche der Geschichte näherzubringen.

Han Kang

Am 10. Oktober wurde bekannt gegeben, dass Han Kang den diesjährigen Literaturnobelpreis erhält.

 

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ⓒ Aufbau Verlag

Han Kang: MENSCHENWERK, übersetzt von Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlag, 222 Seiten, 978-3-7466-3518-7, 12,00 €